Distanzgebot und Mundschutz

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Wie geht es weiter mit dem schulischen Musikunterricht?

Gibt man dieser Tage in gängige Internet-Suchmaschinen Begriffspaare wie „Musikunterricht online“ oder „Musikunterricht – Corona“ ein, dann ergibt sich ein interessantes Bild: Die Treffer auf den ersten Seiten befassen sich praktisch ausschließlich mit Instrumentalunterricht, meist handelt es sich um Online-Angebote von Musikschulen, Vereinen oder privaten Anbietern. Bewährtes wie die seit Jahren bekannten Youtube-Tutorials konkurriert mit Einzelunterricht via Videostreaming, der einen ungeahnten, aus der Not geborenen Boom zu erleben scheint. Bis zum ersten Mal schulischer Musikunterricht ins Blickfeld rückt, muss man schon ein gutes Stück weit blättern in den Trefferlisten, – um dann vorwiegend auf ältere Texte zur Situation des Schulfachs Musik zu stoßen. Einige wenige Beiträge widmen sich der im März veröffentlichten Studie „Musikunterricht in der Grundschule – Aktuelle Situation und Perspektive“, die von Deutschem Musikrat und Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben wurde und erstmals belastbare Daten zur teils dramatischen Unterversorgung mit qualifizierten Lehrkräften zusammenstellt.1 Die notwendige öffentliche Diskussion um die Forschungsergebnisse und daraus zu ziehende Konsequenzen wurde erstickt von der Dynamik, mit der sich nahezu zeitgleich die Corona-Epidemie zur Pandemie entwickelte und das „Thema Corona“ zur „Corona-Krise“ wurde.

Mitte März wurde der Schulunterricht bundesweit eingestellt. Knapp 1,7 Millionen bayerische Schülerinnen und Schüler müssen seitdem zuhause mit Unterrichtsmaterialien versorgt und beim Lernen begleitet werden – und das mit unzureichenden oder unklaren Ressourcen sowohl bei den Lehrkräften als auch bei den Lernenden. Außerdem ist die weitere Perspektive ungewiss: Wie lange hält dieser Zustand an? Ist eine Rückkehr zu „Normalität“ überhaupt möglich – und falls ja: wann? Lehrkräfte im ganzen Land beweisen seit Wochen beachtlichen Einfallsreichtum, improvisieren gekonnt und eignen sich in Blitzgeschwindigkeit neue Fähigkeiten an, im technischen Bereich ebenso wie im organisatorischen. Mittlerweile ist auch der Ausnahmezustand zum Alltag geworden, und damit stellt sich auch für den Musikunterricht die Frage: Quo vadis? Wie wird es weitergehen – und wo stehen wir überhaupt gerade? Von bayerischen Musiklehrerkolleginnen und -kollegen erreichten uns in den vergangenen Wochen sehr unterschiedliche „Wasserstandsmeldungen“: Der eine wähnt sich sehr entspannt in „Coronaferien“; andere legen sich mächtig ins Zeug, produzieren und veröffentlichen Online-Materialien für den Musikunterricht; viele trauern um ausfallende Schulkonzerte und sorgen sich um den Fortbestand ihrer in jahrelanger Arbeit aufgebauten Ensembles; und die Frage, ob und wie die Schülerinnen und -Schüler der Abschlussklassen noch angemessen auf ihre Prüfungen vorbereitet werden können, treibt Musiklehrkräfte genauso um wie ihre Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern.

Seltsam still ist es dagegen zur Zeit um den großen „Rest“: den Klassenunterricht Musik in Grundschulen, an Unter- und Mittelstufe der weiterführenden Schulen. Mediale Angebote, mit deren Hilfe sich Online-Lernarrangements gestalten ließen, gibt es inzwischen in recht großer Zahl und auch guter Qualität. Allen voran engagieren sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Hilfreich sind auch die Angebote etlicher Schulbuchverlage, die Online-Ressourcen vorübergehend kostenfrei zur Verfügung stellen. Auch die Lehrerverbände sind aktiv: Der VBS begann sofort nach der Bekanntgabe der Schulschließungen Mitte März damit, auf seiner Homepage und via Facebook auf Materialien für „Musikunterricht online“ hinzuweisen; seit Anfang April ist auch der Bundesverband Musikunterricht auf diesem Gebiet aktiv. Darüber, in welchem Ausmaß, mit welchen Inhalten und Methoden derzeit überhaupt schulischer Musikunterricht erteilt wird, wissen wir allerdings so gut wie nichts. Wiederum aus Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen wird immerhin deutlich, dass sich die Rahmenbedingungen für „Online-Musikunterricht“ von Schule zu Schule sehr unterschiedlich gestalten: Vielerorts werden zumindest kleinere Musik-Aufgaben als selbstverständlicher Bestandteil der wöchentlich neu zu schnürenden Lernpakete betrachtet und von den Lehrkräften eingefordert. An anderen Schulen werden die Lehrkräfte in „Nebenfächern“ – unter Verweis auf die hohe Arbeitslast der Kinder und Jugendlichen in den Kernfächern – am Entwickeln und Verteilen von Materialien gehindert. Auch aus dem Kultusministerium kommen entsprechende Signale: Minister Piazolo kündigte am 17. April in einer Pressekonferenz an, der Schwerpunkt unterrichtlicher Aktivitäten solle in den kommenden Wochen auf Inhalten liegen, die für die nächsthöheren Jahrgangsstufen vorausgesetzt werden. Andere Lehrplangebiete und Gegenstände, die für die Erarbeitung beim „Lernen zuhause“ nicht geeignet seien, sollten dagegen „für die Zeit nach der Wiederaufnahme des Unterrichts aufgespart“ werden.2

So verständlich diese Marginalisierung als Notmaßnahme ist, so viele Fragen wirft sie für die Zukunft auf: Wir werden uns wohl darauf einstellen müssen, dass schulischer Unterricht und schulisches Leben über viele Monate und wohl auch über Jahresfrist hinweg unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen ablaufen werden, als wir es vor der COVID-19-Pandemie gewohnt waren. Welchen Stellenwert kann und soll schulischer Musikunterricht in solch neuen organisatorischen Strukturen haben? Was erscheint überhaupt inhaltlich und methodisch möglich im „normalen Ausnahmezustand“? Wie soll man sich Klassenunterricht Musik und Musikensembles in Kleingruppen mit mindestens 1,5 Metern Abstand und Gesichtsmasken vorstellen?

Deutlich ist schon jetzt: Wir werden uns möglicherweise vom einen oder anderen lieb Gewonnenen und Hochgehaltenen vorerst verabschieden müssen; stattdessen gilt es, gänzlich neue Wege zu beschreiten. Neben Online- und Blended-Learning-Formaten zählt dazu auch und ganz besonders die Herausforderung, musikalische Primärerfahrungen beim gemeinsamen Musizieren weiterhin möglich zu machen. Dafür braucht es vielleicht nur neue Ideen zur Unterrichtsorganisation. Möglicherweise müssen aber auch ganz neue Spielarten und Praktiken von „Schulmusik“ entwickelt werden. Wir werden es sehen. Als Musiklehrkräfte (und in der Aus- und Fortbildung Tätige) sind wir aber auch unmittelbar gefordert, entsprechende Ideen mit zu entwickeln und zu verbreiten. Wir alle haben es gerade ein Stück weit mit in der Hand, wie unser Fach und seine Lehrkräfte künftig „dastehen“ werden – im schulischen Unterrichtsalltag wie in der Wahrnehmung von Schülerinnen, Schülern, Eltern, Lehrerkolleginnen, Lehrerkollegen, Schulleitungen, Öffentlichkeit und Politik. Lassen Sie uns aktiv etwas dafür tun, dass das Schulfach Musik nicht „über die Kante fällt“ und aus der Krise auch Positives erwachsen kann!

Gabriele Puffer